Literaturepochen: Eigenart und Zusammenhänge

Epochen der Literaturgeschichte: Eigenart und Zusammenhänge

  • In der Regel werden die Epochen der Literaturgeschichte nur für sich behandelt und höchstens voneinander abgegrenzt.
  • In Wirklichkeit gibt es aber
  • fließende Übergänge
  • parallele Entwicklungen
  • Wiederaufnahmen in späteren Zeiten
  • Das hat viel Ähnlichkeit mit Kleidermoden, auch wenn das natürlich ein ganz anderer Bereich ist. Aber der dürfte den meisten Menschen mehr im Alltag begegnen als die Epochen der Geschichte.
  • Im Folgenden versuchen wir mal, die Epochen auf doppelte Weise zu behandeln:
  • zum einen in ihrer Eigenart
  • zum anderen in den Zusammenhängen mit anderen Epochen oder Strömungen.

Beispiel: Gedicht der Aufklärung mit noch vorhandenen Elementen der Barockzeit

Barthold Heinrich Brockes, "Belehrendes Gleichnis"
Am Beispiel eines Palastes wird gezeigt, was nach Meinung des lyrischen Ichs der richtige Umwelt mit der Welt als Gottes Schöpfung ist.

Dabei spielen zwei Elemente eine Rolle:

- Appell an die Vernunft

- Appell an die Nutzung der Sinne

Offen bleibt die Frage, ob das Gedicht nur die intensive Wahrnehmung der Schöpfung im Auge hat oder auch die Verbesserung der Welt. Es spricht einiges dafür, dass das erst nach Brockes in den Blick genommen wird.
https://www.einfach-gezeigt.de/brockes-belehrendes-gleichnis

Beispiel "Aufklärung".

  • Meistens verbindet man diese Epoche des 18. Jhdts mit einer ausgeprägten Vernunftkultur bzw. Rationalität.
  • Ein typisches Beispiel ist die sog. Ringparabel in Lessings Drama "Nathan der Weise". Da wird nämlich die Frage der Wahrheit von Judentum, Christentum und Islam (in dieser historischen Reihenfolge) einfach dadurch gelöst, dass der fiktive Richter erklärt: Eigentlich sind sie alle gleich - und hervortun könnten sich die Religionen, wenn sie das unbedingt wollten, eben dadurch, dass sie sich besonders sozial und menschlich  präsentierten.
  • Parallel zur Aufklärung gibt es aber auch eine kulturelle Strömung, die oft als Gegensatz verstanden wird, nämlich die sogenannte Empfindsamkeit. Darunter versteht man ein intensives Ausleben der Gefühle im Menschen selbst, aber auch miteinander.
  • Natürlich kann man diese beiden Strömungen, einmal des Verstandes, zum anderen der Gefühle, unterscheiden, aber sie sind zum Beispiel in einem Dichter wie Lessing durchaus vereint:
  • Zum einen die starke Ausrichtung an der Rationalität der Aufklärung, wie es die Ringparabel präsentiert.
  • Auf der anderen Seite aber auch eine Vorstellung vom Theater, die vor allem auf das Mitleiden mit anderen Menschen setzt. Für Lessing ist der mitleidigste Mensch zugleich auch der beste. Aus tiefen Gefühlen werden moralische Verhaltensweisen abgeleitet.
    Wörtlich heißt es im
    Briefwechsel über das Trauerspiel (Tragödie):
    "Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch,zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter."
  • Man sieht hier also deutlich, dass das 18. Jhdt. sowohl durch eine Verstandes- als auch eine Gefühlskultur geprägt war.
  • Der Hintergrund dafür war die soziale Entwicklung: Das Bürgertum wurde immer stärker und wichtiger und versuchte deshalb
  • über den Verstand zu einer gerechteren staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung zu kommen,
  • über das Gefühl sich eine von gesellschaftlichen Konventionen unabhängige eigene Identität zu schaffen.
  • Beides waren also Bewegungen, um die eigene Lage gegenüber dem vorherrschenden Stand des Adels zu verbessern und die eigenen Kräfte zu stärken.

Beispiel für die Gefühlskultur schon in der Zeit der Aufklärung (Empfindsamkeit)


Friedrich Gottlieb Klopstock

Das Rosenband (1753)

Im Frühlingsschatten fand ich Sie;
Da band ich Sie mit Rosenbändern:
Sie fühlt' es nicht, und schlummerte.

Ich sah Sie an; mein Leben hing
Mit diesem Blick' an Ihrem Leben:
Ich fühlt' es wohl, und wusst' es nicht.

Doch lispelt' ich Ihr sprachlos zu,
Und rauschte mit den Rosenbändern:
Da wachte Sie vom Schlummer auf.

Sie sah mich an; Ihr Leben hing
Mit diesem Blick' an meinem Leben,
Und um uns ward's Elysium.


Das wirkt zum Teil noch konventionell und könnte auch an einem Fürstenhof der Zeit präsentiert werden.

Aber die Totalität der Liebe wird zumindest schon angedeutet:

  • "mein Leben hing / Mit diesem Blick' an Ihrem Leben:"
  • Ihr Leben hing / Mit diesem Blick' an meinem Leben, / Und um uns ward's Elysium.
  • Und ganz deutlich wird im Folgenden die Priorität der Gefühle:
    "Ich fühlt' es wohl, und wusst' es nicht.


Ausblick auf den Sturm und Drang:

  • Im Sturm und Drang verschoben sich die Gewichte zum Teil in Richtung Gefühle, wie man etwa in Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werther" sehen kann.
  • Zum anderen wurden die rational berechtigten Forderungen nach mehr Gleichberechtigung intensiviert, wie es sich etwa in Schillers Drama "Kabale und Liebe" zeigt. Dort versucht der adlige Sohn des höchsten Beamten im Herzogtum sein Recht auf eine nicht standesgemäße Heirat mit der Tochter eines einfachen Geigers durchzusetzen. Diese wiederum zeigt im Konflikt mit adligen Lady Milford ein so hohes Maß an bürgerlichem Moralbewusstsein, dass diese - obwohl selbst adlig - sich diesem Denken anschließt und den Hof des Fürsten verlässt.

Beispiel für die Abgrenzung der Klassik von benachbarten Epochen (Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Romantik)

  • Man kann vereinfacht sagen,
  • dass die Epoche der Aufklärung den Verstand in den Vordergrund rückt,
  • die Empfindsamkeit das Gefühl,
  • der Sturm und Drang beides verbindet und noch mit ein bisschen Aufruhr gegen die Verhältnisse verbindet,
  • während die Klassik sich an einem scheinbar harmonischen Menschenbild der Antike orientiert und die Menschen durch Bildung veredeln will.
  • Da die Klassik vor allem Ordnung und Harmonie will, hat jemand wie Goethe nicht viel übrig für die Romantik mit ihrer Vorliebe für das Fragmentarische, die fließenden Übergänge, das Unendliche, das Mystisch-Zauberhafte, aber auch die Bereitschaft zum Risiko und zu extremen Gefühlen und Verhaltensweisen.
  • All diesen Epochen ist aber mehr oder weniger Idealismus gemeinsam, d.h. das Bewusstsein einer höheren Ordnung, wenn auch in der Aufklärung zum Teil schon religionskritisch zurückgenommen. Erst im Vormärz wird das Ende dieser "Kunstperiode" verkündet und zum Teil auch gelebt.
    http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/haentzschel_kunstperiode.pdf
    Vergleiche dazu das Gedicht von Heine aus dem "Wintermärchen"
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  • Ein neues Lied, ein besseres Lied,
    O Freunde, will ich euch dichten!
    Wir wollen hier auf Erden schon
    Das Himmelreich errichten

  • Wir wollen auf Erden glücklich sein,
    Und wollen nicht mehr darben;
    Verschlemmen soll nicht der faule Bauch,
    Was fleißige Hände erwarben.

  • Es wächst hienieden Brot genug
    Für alle Menschenkinder,
    Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
    Und Zuckererbsen nicht minder.

  • Ja, Zuckererbsen für jedermann,
    Sobald die Schoten platzen!
    Den Himmel überlassen wir
    Den Engeln und den Spatzen.

Kurz und "verbindlich" - die Romantik

Novalis:


"Die Poësie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt. Sie besteht gerade aus entgegengesezten Bestandtheilen -aus erhebender Wahrheit und angenehmer Täuschung."

Das Zitat wird hier aufgeführt und auch mit Quelle belegt.


Deutlich wird hier der große Gegensatz zwischen dem "Verstand" als dem Zentrum aller aufklärerischen Bemühungen, aber auch der großen industriellen Entwicklung, die schon um 1800 absehbar war, und dem, was die Romantik in den Mittelpunkt stellte - zumindest bei Novalis.


Ausführlicher wird dessen Position deutlich in dem berühmten Gedicht:


Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren

Sind Schlüssel aller Kreaturen

  • Gemeint ist damit die Welt der Mathematik, als einem Hauptbetätigungsfeld der Vernunft.
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Wenn die, so singen oder küssen,

Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

  • Dieser kalten Welt der Rationalität wird die Welt der Gefühle, aber auch allgemein des Menschlichen entgegengesetzt.
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Wenn sich die Welt ins freie Leben

Und in die Welt wird zurückbegeben,

  • Mit der Welt ist die von der Aufklärung bestimmte Welt gemeint, der wird das "freie Leben" entgegengesetzt, ohne die festen Grenzen und Definitionen .
    Interessant, dass am Ende die Rückkehr in die Welt steht, aber wohl in eine andere, lebendigere.
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Wenn dann sich wieder Licht und Schatten

Zu echter Klarheit werden gatten,

  • Die Aufklärung meint nach Novalis klar zwischen Licht und Schatten trennen und damit Klarheit gewinnen zu können.
    Novalis als Romantiker ist aber für die Verbindung beider Bereiche und er glaubt, gerade in diesem Dämmer-Zwischenreich zu "echter Klarheit" zu kommen.
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Und man in Märchen und Gedichten

Erkennt die wahren Weltgeschichten,

  • Ganz bewusst wird der Welt des scheinbar nicht direkt Wahren oder Fiktiven das Potenzial zugeschrieben, die "wahren Weltgeschichten" sichtbar zu machen.
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Dann fliegt vor einem geheimen Wort

Das ganze verkehrte Wesen fort.

  • Am Ende dieser langen von konditionalen und letztlich wohl auch temporalen Nebensätzen wird alles auf den romantischen Punkt gebracht.
    Es gelingt "einem geheimen Wort", dass alles davonfliegt, sich auflöst, was verkehrt gewesen ist.


Und das kann man dann wieder für das Verständnis des Satzes oben nutzen:

"Die Poësie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt. Sie besteht gerade aus entgegengesezten Bestandtheilen -aus erhebender Wahrheit und angenehmer Täuschung."

  • Der Verstand schlägt Wunden, führt zu einem verkehrten  Wesen.
  • Die Poesie, das geheime Wort, kann das in Ordnung bringen, heilen.
  • Weil sie das scheinbar Gegensätzliche nämlich vereinigen kann.
  • Und Novalis bekennt sich ganz offen zu einer Kombination aus "erhebender Wahrheit" und "angenehmer Täuschung".
  • Hier wird wirklich das scheinbar Unvereinbare vereinigt und letztlich alles relativiert, was sich dem entgegenstellt.

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Man kann das übrigens schön mit einer anderen Relativierung der Wahrheit vergleichen, wie sie Max Frisch formuliert hat:
"Als gäbe es Wahrheit ohne Zeit."

Wann immer Wahrheiten formuliert werden, entsprechen sie nicht nur einem aktuellen Kenntnisstand, sondern auch einer akuten menschlichen Wahrnehmung und Gewichtung.


Die Romantik und die Französische Revolution

  • Zusammenfassung des Kerns:
  • Grundsätzlich war die Französische Revolution wie für viele andere deutsche Intellektuelle der Zeit zunächst mal ein Akt der Befreiung, der dem Individuum neue Freiräume versprach.
  • Allerdings war die Revolution nicht nur vom Verlauf her enttäuschend, sondern wurde auch wegen der Herkunft aus der Aufklärung als einseitig verstandesorientiert angesehen.
  • Dazu kam der zum Teil planierende Umgang mit der Tradition, der den Romantikern gar nicht gefallen konnte, die sich gerade an dem Mittelalter orientierten, das in der Aufklärung überwunden werden sollte.
  • Auch zerstörte die von Frankreich ausgehende Bewegung nicht nur indirekt das "Heilige Römische Reich deutscher Nation", sondern in der Säkularisation auch viele Kulturgüter (Auflösung der Klöster).
  • Ein starker Impuls wurde aber übernommen - und das war die Idee des Nationalstaates, etwas, was die Deutschen zunehmend vermissten.
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  • Hierzu gibt es interessante Informationen auf der folgenden Seite:
    http://www.michael-lausberg.de/index.php?menue=exclusiv&inhalt=vorreiter_deutsche_fruehromantik
  • Die Deutschen waren von der Französischen Revolution insofern durchaus fasziniert, weil sie den Menschen mehr Freiheiten, auch mehr Gleichberechtigung zu geben schien
  • und außerdem die Idee des modernen Nationalstaates hervorbrachte, der bald in Deutschland auch schmerzlich vermisst wurde,
  • nachdem man sich bisher - man denke an die Weimarer Klassik - vor allem mit der Idee der Kulturnation begnügt hatte.
  • Abgelehnt wurde von den Romantikern allerdings die Umwälzung der Gesellschaft,
  • die ja auf den Vernunftideen der Aufklärung beruhte - und denen standen die Romantiker skeptisch gegenüber.
  • Das Mittelalter und die angeblich alte Kaiserherrlichkeit, ein rückwärts gerichteter Geschichtstraum der Romantiker, war geradezu ein Gegenmodell zu zu den politischen Modellen der Französischen Revolution.
  • Dazu kam, dass Napoleon ja viel in Deutschland zerstörte bzw. zur Zerstörung beitrug, etwa zum Ende des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" durch die Schaffung des nach Frankreich hin orientierten Rheinbundes.
  • Auch kam es durch die Säkularisation, der viele kirchliche Güter mit unermesslichen Kunstschätzen und Buchbeständen zum Opfer fielen, zumindest in Teilen zu einem regelrechten kulturellen Kahlschlag, der den Romantikern Tränen in die Augen treiben musste.
  • Allerdings wurde die Aufklärung, die all das mit ermöglicht hatte, nicht komplett abgelehnt, sondern nur der Überbetonung des Verstandes gegenüber wurden Gefühle höher gewichtet, wie es besonders in dem Gedicht "Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren" von Novalis deutlich macht.
  • Von demselben Autor stammt auch die Rede "Die Christenheit oder Europa", die schon deutlich macht, dass man sich mit manchen durchaus antichristlichen Zügen der Revolution nicht anfreunden konnte:
    https://de.wikipedia.org/wiki/Europa_(Novalis)
  • Auch der Umgang mit der Tradition unterscheidet die Französische Revolution (statt der historischen Landschaften jetzt die an der Natur orientierten Departments) stark von der Romantik.
  • Auch die Liebe zu Märchen und Sagen als Ausdrucksformen der Volksseele war weit entfernt von dem, was die Kultur der französischen Aufklärung und dann auch der Revolution bestimmte.
  • Interessant auch im Hinblick auf die Modernisierungsansätze der Französischen Revolution ist die Nachtseite der Romantik, die aufgenommen und gestaltet, aber nicht einfach technisch überwunden werden soll (das passt gut als Gegenbild zu dem Roman "Corpus delicti" mit seiner Technifizierung des Menschen.

Wer noch mehr möchte



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